Polynesisch Segeln, der Luxus der Unternehmerpersönlichkeit

Einer der großen und (für mich) wesentlichen Unterschiede zwischen einer Führungskraft in einem großen Unternehmen und einer/m Unternehmer:in ist die Art und Weise, wie Ziele für das Unternehmen gesetzt werden. So habe ich, solange ich in großen börsennotierten Unternehmen gearbeitet habe, immer unter den Zielen gelitten, die mir von meinen Vorgesetzten vor-gegeben wurden.

 

Manchmal wurde mir das Gefühl vermittelt, dass ich bei der Zielformulierung mitgestalten konnte. Manchmal wurde ich sogar aufgefordert, selbst Ziele für mich zu formulieren. Am Ende des Tages hat aber kein Weg daran vorbeigeführt, dass sich diese Ziele an "vorgegebenen" übergeordneten Zielen orientierten oder sich direkt von ihnen ableiten ließen. Die wiederum waren so formuliert, dass sie mit den Interessen von Investoren und Analysten kompatibel waren. Der vorhandene Spielraum: NULL.

 

Immer wieder ist es mir schwergefallen, mich mit diesen – am Ende des Tages von den Aktionären vorgegebenen - Zielen zu identifizieren, geschweige denn, mich dadurch (positiv) emotionalisieren zu lassen. Dazu ist gekommen, dass die Erreichung der Ziele durch mich oft nur schwer direkt beeinflussbar war.

 

Im Gegensatz dazu kann die Unternehmerpersönlichkeit die unternehmerischen Ziele für sich selbst formulieren. Es gibt zwei Ausnahmen davon: es sind Investoren am Unternehmen beteiligt. Die wollen sehr wohl bei der Gestaltung der Ziele mitreden. Im zweiten Fall haben Sie einen nennenswerten Außenstand bei der Bank. Auch in diesem Fall wird die Bank bei der Gestaltung der Ziele mitreden. Wahrscheinlich gibt es noch den einen oder anderen Fall, bei dem andere Menschen bei der Gestaltung der unternehmerischen Ziele ein Wörtchen mitreden. Aber im Großen und Ganzen sind Unternehmer:innen frei bei der Gestaltung und Formulierung ihrer Ziele.

 

Das ist ein großer Luxus! Luxus ist aber selten geschenkt! Der Preis für diesen Luxus: Ungewissheit! Ungewissheit ist das Gegenteil von unserem Grundbedürfnis nach Sicherheit und Orientierung. Damit muss man umgehen können. Der bekannte Arzt und systemische Berater Gunther Schmidt empfiehlt dafür ein Vorgehen, das sich an der Metapher des polynesischen Segelns orientiert:

 

Die polynesische Inselgruppe ist ein riesiges Gebiet in Ozeanien, das aus einer Unzahl an Inseln besteht. Schon vor tausenden Jahren haben es die Polynesier geschafft, mit ihren Booten einen Großteil dieser Inseln anzusteuern. Das ist insofern bemerkenswert, weil die Distanzen zwischen den Inseln oft mehrere tausend Kilometer betrugen und die Poylnesier:innen damals über noch keine Navigationsgeräte wie Sextanten oder Seekarten verfügten. Ihre Strategie war, dass sie sich in der Ferne einen Punkt suchten, der das nächste anzuvisierende Ziel sein sollte. Ziel war es aber nicht, dieses Ziel auch tatsächlich zu erreichen. Vielmehr hatte das Ziel die Funktion, in die Gänge zu kommen und loszufahren. Die polynesischen Seeleute sind dann in einem Verbund von vielen kleinen Booten losgefahren. Die Boote haben untereinander Sichtkontakt gehalten und sich über Gesänge gegenseitig informiert. Dabei beobachteten sie den Sternenhimmel, das Meer, das Wetter, die Meeresströmung und viele andere Faktoren. Wann immer sich neue Erkenntnisse ergaben, haben sie ihr Ziel angepasst. Über Generationen haben sie darin eine hohe Perfektion entwickelt. Das Bemerkenswerteste daran ist, dass dieses Wissen nicht schriftlich dokumentiert wurde. Dieses Wissen wurde mündlich übertragen und weitergegeben. So ist es ihnen gelungen, über mehrere tausend Jahre alle Inseln der Inselgruppe anzusteuern und viele davon zu besiedeln.

 

 

Smarte Ziele haben nicht gänzlich ausgedient. In turbulenten Zeiten voller Ungewissheit ist polynesisch Segeln aber eine gute Methode, mit Zielen, die über sechs Monate hinausgehen, umzugehen und in der Entwicklung des Unternehmens flexibel zu bleiben. Ein weiterer positiver Nebeneffekt ist, dass Sie Ihr Lerntempo erhöhen. Das ist ein nicht zu unterschätzender Effekt, denn: dauerhaft erfolgreich sind nicht die Unternehmen mit der besten Bilanz. Es sind jene Unternehmen, die am schnellsten lernen und sich am schnellsten an neue Gegebenheiten anpassen können.


Eine Frage der Robustheit

 

Versuchen Sie doch einmal, sich ein wenig Zeit zu nehmen und einen kleinen Aufsatz zu schreiben (wirklich schreiben!), wo Ihr Unternehmen in zwei Jahren stehen soll. Welche Kund:innen Sie bedienen, welche Probleme Sie lösen, welche Bedürfnisse Sie befriedigen, welche Produkte oder Dienstleistungen Sie verkaufen, was Sie als Unternehmer:in konkret machen, wie viel Sie arbeiten, wie Sie arbeiten etc.

 

Dieses Zielbild können Sie als Startpunkt nehmen und sich immer wieder anschauen, ob es noch passt. Ob sich zum Beispiel die Umstände geändert haben und Sie Anpassungen vornehmen wollen oder müssen etc.